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Gesellschaft

Wie gestohlene Fahrräder in der Ukraine landen

Olena Perepadya
26. Juli 2021

Jedes Jahr werden in Deutschland Hunderttausende Fahrräder gestohlen, darunter immer mehr Modelle der Premiumklasse. Viele von ihnen finden sich später in der Ukraine wieder. Die DW hat sich auf eine Spurensuche begeben.

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Fahrraddiebstahl Bolzenschneider
Bild: picture-alliance/dpa/F. Gentsch

Anna aus Berlin (Name geändert) hatte nicht lange Freude an ihrem brandneuen roten E-Bike. Im Januar 2020 kaufte sie es für 2600 Euro und stellte es immer im Fahrradkeller ihres Wohnhauses ab. Doch das half nicht: Im Juli wurde es gestohlen. Anna meldete den Diebstahl der Polizei.

Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Bundeskriminalamtes (BKA) in Deutschland über 260.000 Fahrraddiebstähle im Gesamtwert von knapp 200 Millionen Euro registriert. Über die Hälfte der Räder war versichert. Vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erfuhr die DW, dass der Trend bei gestohlenen Fahrrädern in Richtung Premiumklasse und E-Bikes geht. GDV-Sprecherin Kathrin Jarosch erklärt, die Schadenssumme habe 2020 bei 110 Millionen Euro gelegen. Mit 730 Euro habe die durchschnittliche Entschädigung der Versicherer einen Höchststand erreicht, vor zehn Jahren seien für ein gestohlenes Rad durchschnittlich 400 Euro gezahlt worden.

Fahrraddiebstahl in Deutschland und Schmuggel in die Ukraine | Kathrin Jarosch, Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft
Kathrin Jarosch: E-Bikes werden bei Dieben immer beliebterBild: Anna Savchuk/DW

Die Statistiken von Polizei und GDV zeigen, dass die meisten Fahrräder in den Hafenstädten Hamburg und Bremen sowie in den östlichen Bundesländern Berlin, Brandenburg und Sachsen gestohlen werden. Gefunden werden in Deutschland aber nur wenige. Nur zehn Prozent der Straftaten wurden laut Polizei 2020 aufgedeckt.

Gestohlene preiswerte Fahrräder werden in Deutschland oft im Internet oder auf Flohmärkten angeboten. Teure Bikes hingegen werden eher in Ersatzteile zerlegt, oder es wird versucht, sie als Ganzes zu verkaufen. Doch dies ist in der EU ein "unsicheres" Unterfangen, denn die Polizei führt ein Verzeichnis gestohlener Räder und kann jedes schnell anhand der Rahmennummer identifizieren. Deswegen wird versucht, viele gestohlene Fahrräder außerhalb der EU zu vertreiben. Bei der Ausfuhr kann die Rahmennummer an der Grenze natürlich vom Zoll überprüft werden, doch dies geschieht in der Regel nur stichprobenartig.

Fahrraddiebstahl in Deutschland und Schmuggel in die Ukraine | Elektrofahrrad, Preis
Ein Fahrrad kann in Deutschland einige tausend Euro kostenBild: Anna Savchuk/DW

Wohin gelangen gestohlene Fahrräder aus Deutschland?

Dank Hinweisen aus der Ukraine fand die DW heraus, dass Annas Fahrrad aus Berlin im ukrainischen Dnipro gelandet ist. Wolodymyr, der in der zentralukrainischen Stadt lebt, kaufte es im Herbst 2020 in einem Laden. "Ja, ich habe das Rad für 26.000 Hrywnja gekauft (umgerechnet 800 Euro). Die Verkäufer sagten, es käme aus Deutschland. Sie gaben mir aber keine Papiere mit, nur eine Quittung. Der Preis und die fehlenden Papiere wunderten mich nicht, es war ja kein neues Fahrrad. Ich dachte mir sogar, sie hätten es mir noch günstiger verkaufen können", erinnert sich Wolodymyr.

Die DW setzte sich mit dem von ihm genannten Laden in Verbindung. Dort hieß es, es würden "Gebrauchträder unter anderem aus Deutschland" verkauft und für alle würden "Papiere vorliegen". Die Bitte der DW, dies nachzuweisen oder zumindest zu sagen, um welche Dokumente es sich handelt, wurde jedoch abgelehnt. Betont wurde, der Laden importiere nicht selbst, sondern kaufe die Fahrräder über das Online-Portal OLX.ua oder nehme sie von Privatleuten "in Kommission".

Annas E-Bike wurde letztlich anhand der Rahmennummer vom Berliner E-Motion-Store verifiziert, wo es Anna auch gekauft hatte.

Fahrraddiebstahl in Deutschland und Schmuggel in die Ukraine |
Florian Adler vom E-Motion Store in Berlin half bei der Identifizierung von Annas FahrradBild: Anna Savchuk/DW

Vertrieb gestohlener Fahrräder am profitabelsten?

Das ukrainische Internet ist voll von Verkaufsangeboten "gebrauchter Fahrräder aus Deutschland und der EU". Überall gibt es Läden, die solche Räder anbieten. Doch genaue Daten darüber, wie viele Gebrauchträder aus der EU in die Ukraine gelangen, gibt es nicht. Kenner des Marktes sagen, es gebe ganz unterschiedliche Schätzungen: von mehreren Zehntausend bis über 100.000 pro Jahr.

Legal Gebrauchträder in großen Mengen in die Ukraine einzuführen, ist allerdings mühsam und lohnt sich kaum, denn ihr Preis steigt durch Transportkosten, Zoll- und Steuerzahlungen. "Es ist schwierig, mit gestohlenen Gebrauchträdern zu konkurrieren, das ist wirtschaftlich unrentabel. Daher verkaufen Händler in der Ukraine lieber neue Fahrräder, was kein einfaches Geschäft ist", sagt Anton Wakulenko, Inhaber eines Veloladens in Kiew.

Mychajlo Umanez ist hingegen einer der wenigen in der Ukraine, der Gebrauchträder offiziell aus der EU importiert. "Bei uns gehen jährlich 1000 bis 1300 Fahrräder durch den Zoll, wir importieren sie in Chargen. Mountainbikes kaufen wir hauptsächlich bei deutschen Gebrauchthändlern und Citybikes in den Niederlanden", sagt er. Mychajlo zeigt, welche Papiere er seinen Kunden in der Ukraine mitgibt: "Neben der Quittung gibt es einen Fahrradpass mit Rahmennummer und Garantie. Bei manchen Rädern kommt noch eine Anleitung oder ein Serviceheft dazu."

Ukraine Kiew | Fahrräder aus Deutschland
Mychajlo Umanez verkauft in Kiew legal gebrauchte Fahrräder aus DeutschlandBild: Mykola Berdnyk/DW

Alle Gesprächspartner der DW beklagen, dass die allermeisten Gebrauchträder, die in die Ukraine gelangen, gestohlen sind. Die Käufer würden sich aber für Papiere kaum interessieren, ausschlaggebend sei immer der niedrige Preis. Anton Wakulenko und Mychajlo Umanez sowie andere offizielle Händler in der Ukraine sagen, dass sich der Markt für gestohlene Fahrräder in der Ukraine in den letzten Jahren klar in Richtung teurer Modelle entwickelt habe. Es würden immer mehr E-Bikes angeboten.

Ein Gesprächspartner der DW aus dem westukrainische Luzk, der namentlich ungenannt bleiben möchte, erzählt, bei der Einfuhr gestohlener Räder gebe es keine Probleme: "Sie werden zerlegt, die Rahmen mit Nummern versteckt, Pedale und Sitze als Ersatzteile deklariert." Den Transport übernehmen oft Spediteure mit Kleinbussen. Sie sammeln in deutschen Städten Pakete ein und bringen sie bis in die Ukraine. Der Mann behauptet, "wenn man eigene Leute an der Grenze hat, kann man ins Land bringen was man will".

Er fügt noch hinzu, dass der ukrainische Markt mit gestohlenen Fahrrädern, insbesondere E-Bikes, inzwischen so gesättigt sei, dass diese nun auch nach Russland und weiter bis nach Kasachstan gebracht würden.

Fahrraddiebstahl in Deutschland und Schmuggel in die Ukraine | e-Bikes bei E-Motion in Berlin
In Deutschland wurden 2020 1,9 Millionen Elektrofahrräder verkauftBild: Anna Savchuk/DW

Kann ein deutscher Besitzer sein Fahrrad zurückbekommen?

Anna aus Berlin war sehr überrascht als sie erfuhr, dass ihr Fahrrad im ukrainischen Dnipro gefunden wurde. Zurückhaben will sie es aber nicht. Und Wolodymyr, der es nun hat, will keinen Kontakt zu Anna, denn er fürchtet, er müsse dann zur Polizei.

Die DW wollte von den deutschen und ukrainischen Behörden wissen, ob gegen den Transport gestohlener Bikes vorgegangen werde. Von der Berliner Polizei heißt es, dass ihr derartige Einsätze nicht bekannt seien. Sie arbeite auch nicht mit der ukrainischen Polizei bei der Aufdeckung von Fahrraddiebstahl zusammen. "Derartige Vereinbarungen oder Abkommen mit den ukrainischen Behörden existieren nicht. Unberührt davon bleibt die Zusammenarbeit beider Länder und ihrer Polizeien im Rahmen der internationalen Rechtshilfe, durch die anlassbezogen ein Austausch stattfinden kann", so die Behörde.

Die deutsche Polizei kann also auf Rechtshilfeersuchen von ukrainischen Kollegen reagieren. Doch ist es unwahrscheinlich, dass Anfragen bezüglich eines einzelnen in der Ukraine gefundenen in Deutschland gestohlen Fahrrads überhaupt gestellt werden. Die ukrainische Polizei meint übrigens, die Einfuhr von in der EU gestohlenen Rädern und der Verkauf von ihnen in der Ukraine sei kein massives Problem. "Statistiken über die Aufdeckung von Fällen gestohlener Fahrräder aus Deutschland und anderen EU-Staaten sind nicht geplant", heißt es auf Anfrage der DW seitens der ukrainischen Kriminalpolizei.

Unterdessen berichtet der ukrainische Zoll, im Jahr 2020 seien insgesamt 17 Protokolle über Verstöße gegen Zollvorschriften erstellt worden, bei denen es um Fahrräder oder Ersatzteile ging. 2019 waren es sieben. Annas Fahrrad war nicht darunter. Es gelangte offenbar problemlos über die ukrainische Grenze.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Mit dem E-Bike durch die Schweizer Alpen