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Nachhaltige Mobilität "Das heutige Verkehrssystem rechnet sich in keiner Weise"

Bus, Bahn, E-Scooter, Fahrrad, Roboterauto – wie werden wir uns künftig fortbewegen in unseren Städten? Noch hakt es mit der nachhaltigen Mobilität. Doch sie wird kommen, und beim Kampf um Raum wird es einen Verlierer geben, ist Zukunftsforscher Stefan Carsten überzeugt.
Das Interview führte Lutz Reiche
Smart und platzsparend: Im Ausland testet UPS in Städten sogenannte E-Quads. Die vierrädrigen Elektrolastenfahrräder sollen bald auch in der City von München Pakete ausfahren

Smart und platzsparend: Im Ausland testet UPS in Städten sogenannte E-Quads. Die vierrädrigen Elektrolastenfahrräder sollen bald auch in der City von München Pakete ausfahren

Foto: David Parry / UPS

Eigentlich hat der Mann gar keine Zeit: Nach Dutzenden Terminen in den vergangenen Monaten ist Stefan Carsten vor allem eines: urlaubsreif. Morgen soll es Richtung Frankreich gehen, und dann erst mal Ruhe. Kein Telefonat, kein Skript, gar nichts. Doch im Gespräch wird schnell klar: In Sachen Mobilität kann der Zukunftsforscher nicht einfach an- und stillhalten. Landauf, landab ist der Mann für seine Vision einer neuen, nachhaltigen Mobilität unterwegs und berät dabei die Autoindustrie oder die Deutsche Bahn genauso wie den Bundesverkehrsminister und einzelne Gemeinden.

manager magazin: Herr Carsten, als vor drei Jahren die E-Roller-Verleiher in deutschen Großstädten starteten, sollten E-Scooter auch ein Zeichen für nachhaltige, neue Mobilität setzen. Die Beschwerden in Düsseldorf , Hamburg , Nürnberg  und andernorts aber nehmen zu. Jetzt wird das Geschäft reguliert und drohen Strafen. Sind die NutzerInnen unbelehrbar oder fehlt es an Abstellplatz?

Stefan Carsten: Mit Strafen kommen wir hier nicht weiter, schließlich wissen wir, dass E-Scooter einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende beitragen werden. Raum ist in den Städten ein problematisches Gut, das zudem ungleich und nicht nachhaltig verteilt ist. Mehr als die Hälfte des öffentlichen Raumes wird von Autos genutzt – fahrend, stehend oder parkend. Es gäbe also genügend nutzbaren Raum für die neue Mobilität.

Mangelt es da vielleicht auch am Willen, Platz zu schaffen für die neue E-Mobilität?

Stefan Carsten ist Stadtgeograf und Zukunftsforscher in Berlin. Er analysiert seit mehr als 20 Jahren Trends und Entwicklungen der Mobilität. Als Zukunfts- und Mobilitätsforscher berät und unterstützt er Unternehmen, Institutionen und Organisationen – unter anderem als Mitglied des Expertenbeirats des Bundesverkehrsministeriums, wo er strategische Leitlinien für den öffentlichen Verkehr entwickelt. Für die Daimler AG konzipierte er unter anderem neue Mobilitätsdienste wie car2go oder moovel. Gemeinsam mit dem Zukunftsinstitut von Matthias Horx in Frankfurt am Main gibt er den jährlichen Mobilitätsreport heraus.

Es mangelt an Willen und anscheinend auch an Wissen. Selbst im vorbildlichen Berliner Mobilitätsgesetz ist die neue Mobilität kaum berücksichtigt. Sind E-Scooter eigentlich Teil des Umweltverbundes? Die Aufgabe für die Politik lautet also: Die Sharing-Angebote müssen im gesamten Stadtgebiet angeboten werden und nicht nur in den scheinbar lukrativen Innenstädten. Und es müssen Räume für das Abstellen definiert werden, sowohl in Mobility-Hubs als auch dezentral für jede Straße.

Um E-Roller-FahrerInnen zu disziplinieren, könnte man ihnen per GPS den "Saft abdrehen", dann müssten sie durch Park- oder Fahrverbotszonen schieben. Der Städtetag macht sich schon länger für das Geo-Fencing, also die digitale Abriegelung definierter Flächen für E-Roller stark. Warum tut sich in dieser Frage so wenig?

"E-Scooter sind nicht das Problem, sondern der Deutschen liebstes Kind - das Auto"

Ganz offen gesprochen: Scooter sind nicht das Problem, weder in der Nutzung des öffentlichen Raumes, noch bei der Mobilitätswende. Der Deutschen liebstes Kind ist das Problem – das Auto. Aber wenn sie schon fragen: Geofencing wird von mir gerne als Neofencing beschrieben. Als nachhaltiges Mittel zur Steuerung von Mobilität. In Paris ist jeder Parkbügel georeferenziert, damit nur dort Scooter abgestellt werden können. In Deutschland wird stattdessen eher über die Innovation synthetischer Kraftstoffe debattiert.

Studien der Uni Dresden , der Deutschen Energie-Agentur  oder der ETH Zürch  zeigen: E-Roller und E-Bikes als Leihfahrzeuge ersetzen in Städten überwiegend nicht das Auto, den Bus, die S-Bahn, sondern Wege zu Fuß oder das Fahrrad. Bislang ist ihr Beitrag zur umweltfreundlichen Verkehrswende also zweifelhaft. Hat man hier schlicht am Verbraucher vorbei geplant?

"Wir müssen erst lernen, was die neue Mobilität im Alltag bedeutet"

Vor zwanzig Jahren gab es in Europa fünf, sechs Verkehrsmittel. Heute sind es in den Großstädten um die 30. Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass wir erst lernen müssen, was die neue Mobilität im Alltag bedeutet, wie ich sie nutzen kann. Das braucht viel mehr Zeit als drei Jahre. Aber natürlich sind Studien wichtig. Denn eines ist klar. Die sozial, ökonomisch und ökologisch wichtigste Fortbewegung ist entweder zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren.

Wird sich die Ökobilanz der E-Mobilität bei Kleinstfahrzeugen mit Blick auf ihre Herstellung und die Logistik der Verleiher noch verbessern?

Definitiv. Aktuell werden Batterien verwendet, die es wahrscheinlich in 5 Jahren so nicht mehr geben wird. Die Batterieforschung wird hier neue Umweltstandards definieren. Und die Städte werden in Zukunft nur noch Anbieter zertifizieren, die zum Beispiel ESG-Kriterien erfüllen. Das werden dann auch nicht 10 Anbieter sein, sondern vielleicht noch drei, die dann für mehrere Jahre ihren Dienst anbieten dürfen, bevor neu ausgeschrieben wird.

Zum Mobilitätsbild in deutschen Städten zählen Paketwagen von DHL, UPS- oder DPD. Zumeist in zweiter Reihe geparkt verengen sie wegen der Paketflut zusätzlich die Räume. Sehen Sie hier Lösungen?

Oh ja, durchaus. In München will UPS sein gesamtes Paketaufkommen auf Lastenfahrräder verteilen und transportieren. Das Lastenfahrrad hat eine große Zukunft in Deutschland, ihre Zahl wird ständig zunehmen. Marktexperten prognostizieren allein im Jahr 2030 etwa zwei Millionen verkaufte Lastenfahrräder. Aktuell sind es vielleicht rund 80.000 Lastenfahrräder. Aber eines ist auch klar. Die Zahl der Pakete wird sich in den kommenden fünf Jahren wohl noch einmal verdoppeln. Ohne neue Logistikkonzepte im Immobiliensektor und – schon wieder – neue Raum- und Logistikkonzepte in Städten werden es auch Lastenfahrräder allein kaum schaffen.

"Das Lastenfahrrad hat eine große Zukunft": Stadtplaner sind dabei, Mobilität und damit auch Räume neu zu definieren und aufzuteilen

"Das Lastenfahrrad hat eine große Zukunft": Stadtplaner sind dabei, Mobilität und damit auch Räume neu zu definieren und aufzuteilen

Foto: Michael Gstettenbauer / IMAGO

Ich verbinde mit Lastenfahrrädern die schweren, elektrisch unterstützten Transportkisten auf zwei Rädern, morgens oft mit ein oder zwei Kindern besetzt , an denen man auf dem Fahrradweg nicht vorbeikommt. Für Gefährte dieser Art wie auch für die Masse an E-Scootern ist die Infrastruktur in den meisten Städten doch überhaupt nicht ausgelegt.

Vollkommen richtig. Für eine nachhaltige neue Mobilität müssen sich Städte in Deutschland noch stark verändern. Aber es tut sich ja etwas, das ich "Road-Diet" nenne und spätestens seit der Pandemie auch in Deutschland zu beobachten ist. Das heißt: Städte nehmen Autos den Raum, Fläche und Infrastruktur weg und widmen diesen um: für Fahrradfahrer, für Fußgänger oder auch neue Busspuren. Da verändert sich in einigen Städten sehr viel. Wir können hier auch von einer sich abzeichnenden Raumwende in deutschen Städten sprechen.

Derzeit profitieren vor allem Fahrradfahrer von dieser Entwicklung. Wie Sie merken, es werden immer mehr, was auch immer mehr Fahrradstraßen in den Städten nach sich zieht. Andere Städte haben dagegen noch nicht verstanden, dass dies auch ihrem Wohlstand nützt und Arbeitsplätze sichert. Schließlich leben wir mittlerweile in der Wissensgesellschaft. Deswegen ist der Ausbau nachhaltiger, gesunder und inklusiver Räume irreversibel.

Nun, so genannte Fahrradstraßen – etwa entlang der Hamburger Alster – müssen sich Cyclisten meist noch mit Autofahrern teilen. Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie viel Fläche auf diese Weise für den Autoverkehr in deutschen Städten bereits entzogen wurde?

Leider nein. Ich weiß aber: Wenn in Berlin 3000 Kilometer Radwege neu geplant oder umgestaltet werden, wird die gesamte Gesellschaft davon profitieren.

Jede Investition in Fahrradinfrastruktur bringt der Gesellschaft Geld, behaupteten Sie kürzlich bei einer Podiumsdiskussion. Lässt sich das beziffern?

"Jeder gefahrene Kilometer mit dem Fahrrad bringt einen gesellschaftlichen positiven Gewinn von 35 Cent"

Durchaus. Jeder gefahrene Kilometer mit dem Fahrrad bringt einen gesellschaftlichen positiven Gewinn von 35 Cent. Das Ergebnis variiert von Studie zu Studie, aber unter dem Strich steht ein Gewinn: für den Sozialstaat, für den Steuerstaat – vor allem, weil sich die Gesundheitskosten durch körperliche Bewegung mit dem Fahrrad massiv reduzieren. Gleiches gilt für den Fußverkehr. Umgekehrt kostet jeder gefahrene Autokilometer die Gesellschaft Geld, 11 Cent um genau zu sein. Die Subventionspolitik der deutschen Verkehrspolitik etwa in Form des steuerlichen Dienstwagen-Privilegs ist ein Anachronismus in jeder Beziehung.

"Das steuerliche Dienstwagen-Privileg ist ein Anachronismus in jeder Beziehung"

Sie sagen, Mobilität in Städten und ihrem Umkreis muss am Bedarf orientiert sein. In der Diskussion fällt dabei oft der Begriff der "Seamless Mobility", also das nahtlos aufeinander abgestimmte Angebot verschiedener Mobilitätsanbieter. Das braucht Planung. Wie gut sind die Städte darin?

Nachhaltige Mobilität bedeutet nicht darüber reden, sondern Ideen und Konzepte umsetzen und in der Praxis erproben. Wie immer sind hier einige wenige Städte progressiver, während viele andere nur darüber reden. Die integrierten Mobilitätsflatrates in Augsburg, Jelbi in Berlin oder Switch in Hamburg sind sicherlich Vorzeigemodelle, die sich immer weiter entwickeln müssen und werden. Solche und viele neue Angebote werden wir in Zukunft in jeder Stadt nutzen können.

Wie gut arbeiten ÖPNV und private Mobilitätsanbieter mit Blick auf eine integrierte Mobilität zusammen? Gibt es Vorbehalte, vielleicht sogar Konkurrenz, die einer nahtlosen Mobilität zuwiderläuft?

"Vor Corona sahen die Akteure des ÖPNV keinen Grund zu einer Kooperation"

Vor Corona gab es so gut wie keine Kooperation. Die privaten wollten es den etablierten öffentlichen Anbieter zeigen, wie es geht. Die Akteure des ÖPNV sahen keinen Grund in einer Kooperation. Seit Corona ist jedoch die Debatte über die Mobilitätswende in Fahrt gekommen. Beide Seiten erkennen den gegenseitigen Nutzen und kooperieren bei integrierten Angeboten oder bei Ausschreibungen für neue Stadtteile. Dies macht Mut für die Zukunft.

Das 9-Euro-Ticket verkaufte sich im ersten Monat 21 Millionen Mal. Wie die Menschen es genau nutzen – etwa für Bus, U- oder Regionalbahn - ist nicht zu ermitteln. Der Staat könnte das Angebot fortschreiben, gar umsonst anbieten. "Gratis-Öffis" - würde sich das gesamtwirtschaftlich rechnen?

"Das heutige Verkehrssystem rechnet sich in keiner Weise"

Das heutige Verkehrssystem rechnet sich in keiner Weise: Die Steuerzahler zahlen rund 18 Milliarden Euro für Dienstwagen, Pendlerpauschale, Diesel und Biokraftstoffe - während die Gesellschaft die Kosten zu tragen hat und die Konzerne sich der Zukunft verschließen. Der entgeltfreie ÖPNV würde in ähnlichen Dimensionen liegen. Die Städte könnten dies freilich nicht stemmen. Für die Gesellschaft wären dies allerdings prognostizierte Gewinne – in jeder Hinsicht.

Bis autonomes Fahren wirklich sicher und die technische Infrastruktur überall vorhanden ist, dürfte noch viel Zeit vergehen. Ist das die Zukunft der Mobilität zumindest in Städten? Werden sich Robo-Fahrzeuge durchsetzen oder eher Teil einer neuen Mobilität sein?

"Autonome Mobilität wird sich durchsetzen und die Mobilität revolutionieren"

Gerade erst sind die neuen Verkehrsunfallzahlen für 2021 veröffentlicht worden: 2562 Tote. Die Branche feiert diese Zahlen als Erfolg – so niedrig wie seit 60 Jahren nicht mehr. Ich sehe das überhaupt nicht so. 95 Prozent der Verkehrsunfälle passieren durch menschliches Versagen. In zwanzig Jahren wird es genau umgekehrt sein: 95 Prozent aller Unfälle entstehen durch maschinelles Versagen, mit der Folge, dass nahezu keine Menschen mehr im Verkehrssystem sterben müssen. Ja, autonome Mobilität wird sich durchsetzen und die Mobilität revolutionieren, vor allem auf dem Land. Die Städte werden ja gerade für eine nachhaltige, gesunde und inklusive Mobilität umgebaut.