Zu zweit im Cargobike durch die Stadt – Seite 1

Die Artenvielfalt auf dem Radweg wächst. Der jüngste Zuwachs hat vier Räder, eine Kabine, zwei Sitze, einen Lenker, Pedale und einen Elektromotor. Auf den ersten Blick sieht das Gefährt aus wie die kleine Schwester des Renault Twizy. Es ist aber ein E-Cargobike. Jedenfalls offiziell. Mit den herkömmlichen Transporträdern, die auf großzügigen Ladeflächen Lasten oder Kinder transportieren, haben die neuen Fahrzeuge namens Biohybrid, Hopper, Noca oder Loadster nur noch wenig zu tun.

Die Neuen stehen für den Wandel der Mobilität in den Zentren. Das Angebot an Alternativen zum Privatwagen wächst dort stetig. E-Kick-Scooter oder E-Bikes gehören längst zum Stadtbild. Aber nicht jede und jeder kann oder will täglich auf zwei Rädern durch die City cruisen. Andere brauchen aus gesundheitlichen Gründen eine wetterfeste Alternative. Die neuen Fahrzeuge sollen diese Lücke schließen. Ihre Entwickler kombinieren die Vorteile eines Fahrrads mit denen eines Autos. Dazu gehört auch die Mitnahme eines Passagiers.

Mitfahren in Cargobikes ist Erwachsenen erst seit März erlaubt. Damals hat der Bundesrat die Straßenverkehrsordnung (StVO) novelliert. Das war der Startschuss für viele Entwickler und Entwicklerinnen, ihre Fahrzeuge mit einem zweiten Sitz statt einer Transportbox auszustatten. Einer von ihnen ist Patrick Seidel. Der Leiter für Strategie und Unternehmensentwicklung testete damals bereits das Velomobil Biohybrid. Damals gehörte das gleichnamige Start-up noch zum Automobilzulieferer Schaeffler. Inzwischen ist Biohybrid ein eigenständiges Unternehmen.

Für Automobilzulieferer wie Schaeffler ist der E-Bike-Markt ein lukratives Geschäft. Bosch verkauft seit 2010 eigene Motoren und wurde schnell Marktführer. Brose folgte 2014 und Mahle 2018. Dem Entwicklerteam von Schaeffler reichte das aber nicht. Sie fanden: E-Bikes sind wie E-Autos nur ein Teil der Lösung. Sie haben im Alltagsgebrauch Schönheitsfehler. "Das E-Bike ist kein Ganzjahres-Fahrzeug für jedermann", sagt Seidel. Und E-Autos wie der Renault Twizy scheiterten an der lückenhaften Ladeinfrastruktur. Seidel und sein Team vermissten ein radwegtaugliches Fahrzeug mit Wetterschutz, das gut aussieht, aber nicht zu spacig.

Das Ergebnis ist ihr Biohybrid. Die autoähnliche Silhouette der Kunststoffkarosserie wirkt vertraut. Die Frontscheibe mit Scheibenwischer schützt vor Regen, Blinker ersetzen das Handzeichen und ein Rückwärtsgang erleichtert das Rangieren des rund 85 Zentimeter breiten, 1,5 m hohen und rund 2,40, Meter langen Gefährts. Laut Seidel reichen die ein oder wahlweise zwei Akkus für 50 bis 100 Kilometer. Geladen wird an der Steckdose.

"Unsere Zielgruppe sind Pendler, junge Familien, Ältere, die sich nicht mehr aufs Rad trauen, aber auch jüngere Menschen", sagt Seidler. Der Vorteil neben dem Wetterschutz ist offensichtlich: Man sitzt zu zweit hintereinander, rollt gemeinsam über Kreuzungen und kann sich während der Fahrt unterhalten.

"Der Bedarf an diesen Cargobikes ist groß", sagt Arne Behrensen, der das Blog Cargobike.jetzt betreibt und unter anderem für das EU-geförderte CityChangerCargoBike-Projekt arbeitet. Allerdings ist der Biohybrid für ihn kein Fahrzeug für jüngere Menschen, sondern für Ältere. "Wir leben in einer alternden Gesellschaft", sagt er. Deshalb werde die Nachfrage nach diesen Fahrzeugen in den kommenden Jahren stark zunehmen.

"Nutzen statt besitzen ist der Weg der Zukunft"

Dafür muss die Politik allerdings erst die Rahmenbedingungen schaffen. Noch immer ist das Radwegenetz in vielen Städten nur Stückwerk. Gerade ältere Menschen brauchen aber ein Umfeld, in dem sie sich sicher fühlen. Für Behrensen heißt das: den Kfz-Verkehr in den Zentren reduzieren und die Radwege verbreitern. Problematisch sind aus seiner Sicht die Protected Bike Lanes. Das sind per Poller geschützte Radwege, für die sich Radaktivisten momentan bundesweit in vielen deutschen Städten engagieren. In Berlin an der Hasenheide könnten Lastenräder einander aufgrund der Poller kaum überholen. Der Weg sei zu schmal. Im schlechtesten Fall bremsen Cargobike-Fahrer einander dort aus.

Es kann also künftig eng werden auf den meist ohnehin viel zu schmalen Radwegen. Denn die Zahlen zeigen: Cargobikes liegen im Trend. 76.000 Bikes wurden allein 2019 in Deutschland verkauft. Bei den Modellen mit Motor waren es 40 Prozent mehr als im Vorjahr.

Für Professor Andreas Knie ist das erst der Anfang. Der Verkehrsforscher leitet die Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Er ist sich sicher: "Die Zahl und Vielfalt neuer Fahrzeuge auf dem Radweg wird steigen." In den vergangenen fünf Jahre seien bereits viele gute Lösungen hinzugekommen. Weitere werden folgen. Damit sich nicht jeder Stadtbewohner seinen eigenen Fuhrpark für jedes Mobilitätsbedürfnis aufbaut, plädiert Knie fürs Teilen statt Besitzen. Statt Fahrzeuge für die private Zwecke zu konstruieren, sollten die neuen Anbieter direkt fürs Sharing produzieren.

"Nutzen statt besitzen ist der Weg der Zukunft", sagt Knie. Sein Ansatz ist pragmatisch. Sharing erweitert die Wahlmöglichkeit des Einzelnen. "Wenn du ein Auto willst, kriegst du eins", sagt er. Wer einen Elektroroller oder ein Fahrrad braucht, findet beides ebenfalls, oft nur wenige Meter entfernt. Gebucht und bezahlt wird per Mobilitätsapp. Dieser Service und die kurzen Wege machen Sharing laut Knie immer attraktiver.

Das spüren auch die Städte und wollen ihre Angebote erweitern. Die ersten Anfragen nach Biohybriden für den Sharing-Betrieb hatte Seidel bereits auf dem Schreibtisch. Aber er fürchtet Vandalismus. "Die ersten Smarts wurden weggetragen", sagt er, "Sharing-Räder landeten in Bäumen, E-Kick-Scooter in Flüssen." Die Biohybride will er deshalb erst im Privatbereich etablieren, bevor er sie im Sharing einsetzt.

Aber unabhängig davon, ob sie geteilt oder privat genutzt werden, brauchen die neuen Cargoräder Platz – zum Fahren, aber auch zum Parken. Das Biohybrid oder der Loadster sind beide schwer und behäbig. Niemand bugsiert sie freiwillig durch schmale Hausflure, um sie im Hinterhof abzustellen. Auf dem Gehweg versperren sie Fußgängern den Weg. Grundsätzlich ist es laut StVO erlaubt, sie auf der Straße zu parken. Aber Lastenräder auf Parkplätzen abzustellen, muss sich ebenfalls erst etablieren. Die Berliner Senatsverwaltung hat 2019 eine Planungsgrundlage für Cargobike-Parkplätze am Fahrbahnrad erstellt. Der Bezirk Neukölln hat daraufhin reagiert und Lastenrad-Stellplätze ausgewiesen. Aber das ist die Ausnahme. Es muss sich noch einiges ändern, bis der Autoersatz nicht nur gut aussieht, sondern auch sicher in der Stadt bewegt und geparkt werden kann.