Tempo 30 wird zur Norm

Auf dem Land und in der Agglomeration verwandeln die Behörden Strassen zunehmend in Tempo-30-Zonen. In den grossen Städten ist der Boom bereits vorbei – dort kommt jetzt Tempo 20.

Daniel Gerny, Erich Aschwanden
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Städte richten Tempo-30-Zonen ein, um den Verkehr zu kanalisieren, Lärm zu vermeiden und die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern. (Archivbild: Keystone)

Städte richten Tempo-30-Zonen ein, um den Verkehr zu kanalisieren, Lärm zu vermeiden und die Lebensqualität der Bewohner zu verbessern. (Archivbild: Keystone)

«Generell 50» – diese Verkehrsregel gilt in den grossen Städten de facto schon lange nicht mehr: Auf 56 Prozent des innerstädtischen Strassennetzes in Basel mit einer Länge von insgesamt 294 Kilometern gilt heute Tempo 30, jährlich kommen derzeit 3 bis 4 weitere Kilometer hinzu. Inzwischen gilt dieses Regime immer mehr auch für Durchgangsstrassen: Nach einem jahrelangen Rechtsstreit stützte das Bundesgericht diese Woche das Vorhaben der Basler Regierung, die Höchstgeschwindigkeit auf der Sevogelstrasse auf 30 Kilometer pro Stunde zu begrenzen.

Mit Vehemenz hatte sich der Automobilclub der Schweiz (ACS) dagegen gewehrt – vergeblich: Auch sogenannt verkehrsorientierte Strassen, die Hauptachsen für den motorisierten Verkehr darstellen, sind laut Bundesgericht von Tempo 30 nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn dadurch Lärm vermindert oder die Verkehrssicherheit erhöht werden kann. Genau für diesen Schritt hatte sich das Basler Parlament kürzlich ausgesprochen. «Jetzt haben wir die rechtliche Grundlage dazu», jubilierte der Kanton nach dem Verdikt aus Lausanne auf seinem offiziellen Twitter-Kanal.

«Hinnehmbarer Zeitverlust»

Das Urteil könnte Folgen für die ganze Schweiz haben – auch für die Stadt Zürich. Dort wehren sich die Automobilverbände derzeit mit allen juristischen Mitteln gegen Tempo 30 auf Hauptstrassen. Sie geisseln solche «Verkehrsbehinderungsmassnahmen» als unverhältnismässig und nutzlos – und als kontraproduktiv: Übertriebene Temporeduktionen führten dazu, dass sich der Schleichverkehr wieder zurück in die Quartiere verlagere, argumentieren sie.

Mit solchen Einwänden sind die Basler Beschwerdeführer in Lausanne mit voller Wucht aufgelaufen: Das Bundesgericht macht klar, dass es nicht gewillt ist, die Verkehrspolitiker in den meist rot-grün dominierten Städten aktiv zurückzubinden. Die Geschwindigkeitsreduktion hätte für Autofahrer «bloss einen geringen und damit hinnehmbaren Zeitverlust» zur Folge, urteilten die Richter in Bezug auf die zur Debatte stehende Sevogelstrasse kühl.

Schritt für Schritt wird die Geschwindigkeit des motorisierten Verkehrs in den Städten auf diese Weise gesenkt. Exemplarisch zeigt sich dies in der Stadt Luzern, wo erst seit dieser Legislatur eine sogenannte Öko-Allianz, bestehend aus SP, Grünen und GLP, über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Seither hat der Wind gedreht: Mit Rückendeckung der ebenfalls links-grünen Stadtregierung beschloss diese Allianz vor kurzem, eine Temporeduktion auf der vielbefahrenen Hirschmattstrasse zu prüfen. Prüfen heisst in diesem Fall höchstwahrscheinlich, dass Tempo 30 auch tatsächlich angeordnet wird. Vergeblich und fast schon rituell warnten Vertreter von SVP, FDP und CVP davor, bald die ganze Stadt Luzern in eine einzige Tempo-30-Zone zu verwandeln. Schon heute darf in Luzern auf 106 Kilometern mit nicht mehr als 30 Kilometern pro Stunde gefahren werden.

Das Beispiel Luzern veranschaulicht die Dynamik der letzten Jahre: Winterthur bewilligte seit 2007 46 der heute insgesamt bestehenden 63 Tempo-30-Zonen. Inzwischen gilt diese Vorschrift auf 142 Kilometern. In Bern sind es 189, in Zürich 319 und in St. Gallen 113 Kilometer. In fast allen Städten scheint der Höhepunkt beim grossflächigen Ausbau von Tempo-30-Zonen inzwischen vorüber. Was in Sachen Temp0 30 gemacht werden konnte, wurde vielerorts bereits realisiert – zumindest auf den Quartierstrassen.

Es drohen Klagen

Die Städte haben dieses Programm in den letzten Jahren nicht zuletzt deshalb offensiv vorangetrieben, weil sie sich gegen Schadenersatzforderungen wappnen wollten: Ab dem 1. April entfaltet ein Klagerecht Wirkung, welches die Anwohner gegenüber Kantonen und Gemeinden als Eigentümern von zu lauten Strassen massiv stärkt. In den letzten Jahren haben die Städte vorgesorgt, denn Temporeduktionen sind eines der wirksamsten und günstigsten Mittel gegen Lärmemissionen.

Und bereits wird die Geschwindigkeit innerorts weiter gesenkt. Inzwischen fördern viele Städte sogenannte Begegnungszonen, in denen nur noch höchstens 20 Kilometer pro Stunde erlaubt sind – und Fussgänger ein permanentes und kaum eingeschränktes Vortrittsrecht geniessen. Spitzenreiter ist in diesem Bereich die Stadt Bern, wo gemäss Stadtentwicklungskonzept auf Quartierstrassen ohne Verbindungsfunktion grundsätzlich das Tempolimit 20 Kilometer pro Stunde gilt – und Tempo 30 die Ausnahme ist. Bereits auf 24 Strassenkilometern gilt dieses Regime. Laut Hannes Meuli, dem Bereichsleiter Strategische Verkehrsplanung, wird die Länge der Tempo-30-Zonen tendenziell abnehmen, da diese zu Begegnungszonen weiterentwickelt werden. So gut wie alle Deutschschweizer Städte setzten vermehrt auf Begegnungszonen.

Immer weniger Autobesitzer

Trotz mancher juristischen Auseinandersetzung stösst die Entwicklung in den Städten keineswegs nur auf Ablehnung. In den Citys gilt der Autoverkehr inzwischen nicht mehr nur eingeschworenen Velofahrern als Ärgernis. In mehreren Orten wurden in den letzten Jahren Initiativen oder Gesetzesvorlagen angenommen, die den Verkehr teilweise drastisch reduzieren wollen. Dazu kommt, dass die Zahl der autofreien Haushalte kontinuierlich zunimmt: Waren die Autobesitzer in Zürich, Basel und Bern um die Jahrtausendwende noch in der Mehrheit, ist ihr Anteil 15 Jahre später in allen Städten teilweise deutlich unter die 50-Prozent-Marke gesunken. In Bern beispielsweise stand 2015 bei 56,8 Prozent aller Haushalte kein Wagen vor der Tür – neuere Zahlen sind nicht verfügbar. In Zürich sehen die Verhältnisse ähnlich aus.

Selbst in der Agglomeration und auf dem Land wird die Drosselung des Tempos je länger, je mehr zum heiss diskutierten Thema. Zwar lehnten die Solothurner Gemeinde Hägendorf und das Aargauer Dorf Gränichen Kredite zur flächendeckenden Einführung von Tempo 30 auf Quartierstrassen vor wenigen Wochen wuchtig ab. Doch vielerorts ist Tempo 30 längst zum probaten Mittel geworden, um die Lebensqualität zu steigern. In zahlreichen Dörfern wird über die Einführung von Tempo 30 intensiv diskutiert. Diese Woche hat sich beispielsweise der Gemeinderat von Wittenbach im Kanton St. Gallen für flächendeckende Tempo-30-Zonen ausgesprochen, demnächst entscheidet die Gemeindeversammlung im aargauischen Mägenwil in ähnlicher Angelegenheit. Und unlängst scheiterte im bürgerlich dominierten Berner Kantonsparlament ein Versuch, Temporeduktionen auf Kantonsstrassen zu verhindern.

Tempo 30 für Wilhelm Tell

Inzwischen ist Tempo 30 gar quasi in unmittelbarer Nähe der Schweizer Seele angelangt – in Bürglen, dem Heimatdorf von Wilhelm Tell. Auch dort wurde mit viel Aufwand gegen die Temporeduktion auf einem Strassenabschnitt im Ortszentrum gekämpft – zwar nicht mit der Armbrust, aber mit juristisch schwerem Geschütz. Das Urner Obergericht allerdings versagte sowohl einer Interessengemeinschaft als auch dem TCS die Unterstützung, die Beschwerde wurde abgewiesen. Wohlwollende Stimmen sagen, der Entscheid sei sehr wohl im Interesse des schweizerischen Nationalhelden gewesen – nun könnten Besucher auf dem Weg zum Tell-Museum wenigstens sicher die Strasse überqueren.